Demokratische Ethik

Warum wir in ethischen Fragen auf uns selber und nicht auf Wissenschafter hören sollten

Ethik hat für viele den Nimbus einer Wissenschaft. Eine Wissenschaft hat es an sich, dass zu ihrer Ausübung gewisse Kenntnisse vorausgesetzt werden und dass es in der Regel klare Kriterien für wahre und falsche Aussagen gibt. Es ist nun eine extreme und fragwürdige Sicht zu meinen, Ethik sei eine Wissenschaft im genannten Sinn. Viel eher ist sie als Disziplin der Künste zu betrachten. ‹Sittenlehre›, die altdeutsche Übersetzung von ‹Ethik›, lässt noch die Voraussetzung spezifischer Kenntnisse und eines definierten methodischen Vorgehens anklingen. Der moderne Begriff ‹Moral-Philosophie› trifft die Sache darum besser, insofern die Philosophie auch eine Kunst-Disziplin ist, welche jedermann, jedefrau und – insbesondere! – jedeskind offen steht: Wer nur Fragen stellt, ist philosophisch tätig.

Somit sind also nicht alle Menschen dazu befähigt, wissenschaftliche Fragen zu beantworten. Aber alle Menschen sind in der Lage, so sie denn wollen, ethische Urteile zu fällen. Oder in abgeschwächter Form ausgedrückt, um auch Kinder oder geistig Schwache zu berücksichtigen: Ausnahmslos alle sind legitimiert, eine implizite oder explizite Meinung zu ethischen Fragen zu haben.

Schwester des Glaubens, Ethik sei eine Wissenschaft, ist die Ansicht, es gebe auf der einen Seite ethische Aussagen und auf der anderen Seite unethische Aussagen. Diese Meinung ist bis in die höchsten Intellektuellenkreise verbreitet und grassiert besonders virulent bei Technikern und Naturwissenschaftern. Es ist legitim, diese Meinung zu haben, denn sie widerspiegelt die Gegenthese, wonach Ethik eben eine Wissenschaft sei. Diese Ansicht ist aber aus meiner Sicht im Kontext einer demokratischen Gesellschaft bedenklich, ja gar systemwidrig. Sie passt besser in eine technokratische Gesellschaft.

Wer demokratisch gesinnt ist und somit allen Bürgern die Mitsprache an politischen Entscheiden zutraut und zumutet, der muss auch konsequent sein und allen die Mitsprache bei ethischen Fragestellungen zutrauen und zumuten. «Es ist unethisch zu sagen, dass es in Pandemiesituationen keine generelle Maskenpflicht braucht.» ist so gesehen eine höchst problematische Aussage, da sie suggeriert, es gebe ein ethisches Wahr und ein ethisches Falsch. Hinter dieser Aussage steckt die Prämisse, dass die Frage der Maskenpflicht eine technische und nicht eine politische Angelegenheit sei. Da aber darüber von gewählten Politikern verhandelt und somit politisch befunden wird, gibt es nicht an sich ethische oder unethische und noch weniger richtige oder falsche Antworten.

Wir sollten, gerade in der Schweiz, wieder mehr Mut fassen, ethische Fragen ergebnisoffen zu diskutieren und politische Minderheitsmeinungen nicht als unethisch abzuqualifizieren. Unethisch bedeutet nämlich nur, nicht einer bestimmten Ethik zu entsprechen. Es gibt aber nicht die eine bestimmte und wahre Ethik, so wie es nicht die eine wahre Partei gibt. Individualistisch zugespitzt formuliert hat jeder Mensch seine eigene Ethik, nämlich ein System von Meinungen zu Verhaltensweisen, die er persönlich gut oder schlecht findet.

Aristoteles hat vor über 2000 Jahren in seiner «Nikomachischen Ethik» das Prinzip der Tugend als Mittelweg beschrieben. Jede extreme Sicht der Dinge ist demnach zu vermeiden. Ich wünsche mir, dass wir uns dieses Prinzip wieder vermehrt zu Herzen nehmen und uns unserer demokratischen Tugend besinnen, welche es extremen Positionen schwer macht, sich durchzusetzen. Eine Demokratie stirbt nämlich ab, wenn sie technokratischen Wissenschaftern und Expertenkommissionsmitgliedern hörig wird, die im Namen der Volksgesundheit skeptische Gegenmeinungen als unethisch abtun.