Wie soll ich reisen?

Tugendhaft unterwegs sein

Philosophen sind nicht nur berüchtigt für ihre Frage-, sondern auch für ihre In-Frage-Stellungen, gerade auch was die eigenen Annahmen angeht. Unter dem Mantel der Ruf-Erhaltung sei daher zuerst die kritische methodische Vorbemerkung angebracht, ob die Ausgangsfrage aus konsequent freiheitlicher Sicht nicht besser «Soll ich reisen?» lauten müsste. Denn im Vergleich zu anderen Lebensbereichen wie dem Wohnen oder der Arbeit ist das Reisen zumeist eine fakultative Angelegenheit, es kann ohne Weiteres darauf verzichtet werden. Kaum jemand wird sich allerdings freiwillig des Reisens gänzlich enthalten wollen. In uns Menschen scheint ein nomadischer Urtrieb des Unterwegsseins zu stecken, den wir bei aller zivilisatorisch eingeübter Sesshaftigkeit nie abgelegt haben.

Das Reisen beschränkt sich für die meisten von uns auf die Freizeit, und es ist diese Art des Unterwegsseins, welche hier beleuchtet werden soll. Es gibt in diesem Kontext kurze, lange und Welt-Reisen, wobei die Abgrenzungen natürlich nicht scharf sind. Welche Weise von Reise in einer gegebenen Situation am besten passt, ist eine der ersten Folge-Fragen, die es für sich zu beantworten gilt: Gehört eine Reise rund um die Welt zu den Dingen, die ich im Leben unbedingt gemacht haben muss, um zufrieden zu sein? Benötige ich zwecks Horizonterweiterung, Abenteuertrieb, Alltagsflucht, Exotismussucht, oder einfach weil es gesellschaftlich dazugehört, jeden Sommer eine lange Reise in ferne Länder? Reichen mir einige Ausflüge in die Berge oder an Badestrände zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Tapetenwechsel? Oder bin ich gar am liebsten zu Hause und unternehme gedankliche Reisen bei der Lektüre von Fantasy-Romanen oder beim Eintauchen in Fernsehserien?

Es gibt objektiv keine richtigen oder falschen Antworten auf solche Fragen. Es gibt aber durchaus falsche Arten, wie man die gewählten Reise-Varianten in die Tat umsetzen kann, respektive falsche Weisen, wie man mit den eigenen Bedürfnissen umgeht. Wer «schon immer mal» nach Australien reisen wollte, darauf aber aufgrund von ökologisch motivierten Skrupeln verzichtet, ist gut beraten, mit seinem «inneren Team» eine Aussprache zu führen und die Spannung in sich drin nicht zu einer Zerreissprobe führen zu lassen. Vielleicht ergibt sich ja eine Reise per Schiff auf die andere Seite des Globus. Oder ein eigenes Kind wandert nach Neuseeland aus, man möchte es unbedingt bald in seinem neuen Zuhause besuchen, und dieser Wunsch kann dann rational das mulmige Gefühl beim Gedanken an einen Langstreckenflug übersteuern. Vielleicht kommt man auch einfach gelassen und reflektiert zum Schluss, dass eine Flugreise nichts an sich Böses ist und sogar genossen werden darf. Schliesslich sollte Klimaschutz ja nicht als Verbotsideologie den Ab- und Ausgleich all unserer Interessen und Bedürfnisse von vornherein abwürgen.

Ein spezifisches Reise-Gebot ergibt sich aus diesen Überlegungen wiederum nicht, gehört der Interessenausgleich doch zum allgemeinsten Grundrépertoire des vernunftorientierten Lebens sowohl auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene. Eine Reiseethik als solche entwickeln zu wollen erscheint vor diesem Hintergrund sowieso als ein vermessenes Ziel, respektive ‒ in Anwendung Ruf-förderlicher Methodik ‒ als Nicht-Ziel. Um die Ausgangsfrage angemessen zu beantworten, bietet sich wohl am ehesten ein tugendethischer Ansatz an. Die Tugendethik ist jene moralphilosophische Variante, welche das gute, ethisch richtige Leben der einzelnen handelnden Person im Fokus hat. Wie ich als Einzelperson reisen soll, ist dann, in Form einer weisen Gesamtbetrachtung, mit Bezug auf meinen Charakter, meine Vorstellung des guten Lebens und meine Werte zu beantworten, immer orientiert an meinen Handlungen in konkreten Situationen.

Wissen Sie nach der Lektüre und geistigen Verarbeitung dieses Textes noch nicht, wohin Sie die nächste Reise unternehmen sollen? Dann sei eine «innere Reise» in die phantastisch exotischen Sphären der Philosophiegeschichte empfohlen. Ich agiere gerne als Ihr Reiseführer, schreiben Sie mir auf mail@philophil.ch, welche Reiseweise sich für Sie als weise erweise, die kurze, die lange, oder die weltumspannende. Ein kleiner Tipp vorweg: Wandeln Sie auf dem Pfad der Reisetugend!