Welche Regeln gelten im Internet?

Warum die digitale Sphäre ein Teil unserer Welt ist

In der Frühphase des Internets war die utopische Sicht verbreitet, wonach es im Internet kein moralisches Recht zu regieren gebe. John Perry Barlow formulierte diese Sichtweise in seiner «Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace». Er glaubte, dass sich in der digitalen Sphäre dank eines gemeinsamen Efforts gut gesinnter Menschen ein neues rechtliches System entwickeln werde. Wir sind heute schlauer und wissen, dass sich im Internet nicht automatisch Recht, Moral und Gemeinwohl ausbreiten.

Im Verlauf der Jahrhunderte haben unsere Gesellschaften Gesetze, Regeln und Verhaltensweisen entwickelt, die sich bewährt haben und die ein geordnetes Zusammenleben vieler verschiedener Menschen ermöglichen und vereinfachen. Es haben sich Werte herausgebildet wie Anstand, Vertrauen, Verbindlichkeit oder Ehrlichkeit, aber auch abstraktere Konzepte wie Freiheit, Wahrheit oder Echtheit. Diese Werte und Konzepte sind in einem «analogen» Kontext entstanden. Die Frage, ob diese Werte auch im «digitalen» Bereich gleichermassen Anspruch auf Gültigkeit haben, oder ob darin nicht gänzlich neue Regeln gelten sollen, ist daher sehr berechtigt.

Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich, zum philosophischen Konzept des Kosmos zurückzugreifen. Kosmos kann mit Welt oder Ordnung übersetzt werden und bezeichnet die Gesamtheit der strukturierten Ordnung um uns herum, also die Summe der Gegenstände, Lebewesen, Beziehungen, Gedanken, Gesetze, Regeln etc. Diese Definition des Kosmos ist so allumfassend, dass es ausserhalb nur unstrukturiertes Chaos geben kann, also auch keinen zweiten Kosmos respektive keine zweite Welt. Dies ist nicht nur ein philosophischer Trick, sondern es ergibt sich aus der Definition sowie aus dem Prinzip heraus, dass es nur eine einzige Gesamtheit geben kann. Denn wenn es ausserhalb der Gesamtheit etwas anderes gäbe, wäre es ja keine Gesamtheit.

Die Welt als die geordnete Gesamtheit all dessen, was es gibt, umfasst somit auch den Cyberspace. Nun eröffnet dieser Raum zweifellos eine Vielzahl neuer Möglichkeiten, die in der analogen Umgebung undenkbar gewesen sind. Nicht alles ist aber neu in diesem Raum. Die wesentlichste Gemeinsamkeit analoger und digitaler Umgebungen ist die Tatsache, dass es menschliche Subjekte sind, die interagieren, oder in deren Namen interagiert wird. Auch im Internet sind es Menschen aus Fleisch und Blut, mit ihren Bedürfnissen und Werten, welche ihre Ziele verfolgen und ihr Handeln vor dem eigenen Gewissen rechtfertigen müssen. Kein Mensch legt all seine Prinzipien und Überzeugungen ab, wenn er in die digitale Sphäre eintritt. Wir bewegen uns mit der Erwartung im Cyberspace, dass dort nicht pures Chaos herrsche.

Insofern also der Cyberspace ein Teil unserer Welt ist und insofern wir davon ausgehen, dass der Mensch auch in der digitalen Sphäre seine Bedürfnisse und Werte behält, ist es nicht angebracht, für digitale Umgebungen gänzlich neue oder andere Regeln zu etablieren. Alle Akteure im digitalen Bereich sind an die gleichen Grundsätze und Verhaltensregeln gebunden, wie sie im analogen Bereich gelten. Es braucht sicherlich neue Instrumente für die Bewahrung der Werte und die Durchsetzung von Regeln im Internet. Da das Digitale aber nicht mehr als eine Fortsetzung menschlicher Interaktion mit anderen Mitteln ist, brauchen wir kein neues rechtliches System. Vielmehr müssen wir darauf achten, wie wir innerhalb der allumfassenden Gesamtheit unserer Welt das Recht, die Moral und das Gemeinwohl so durchsetzen können, dass ein menschliches Leben möglich ist – egal ob analog oder digital.