Die neuste Unübersichtlichkeit

Anstatt technokratischer Detailregelungen sind
an einer Hand abzählbare Prinzipien gefragt

Die Orientierung zu haben gibt ein gutes Gefühl. Orientierung ist die sichere Verortung im multidimensionalen Koordinatensystem der Welt. Uns orientieren zu können ist auch die Voraussetzung, um Sinnhaftigkeit zu spüren und zu erleben. Nun ist dies nie Dauerzustand: Manchmal verlieren wir den Horizont aus den Augen und verhaspeln uns im Detail, oder wir kennen die Richtung nicht, in welche wir unterwegs sein wollen. Und zuweilen gar ändert sich das Koordinatensystem selber, so dass wir, ohne den Platz in der Welt geändert zu haben, nicht mehr wissen, an welchem Ort wir stehen.

Im Verlauf des Erwachsenwerdens definieren wir unseren Ort innerhalb der vorgefundenen Dimensionen. Früher konnte manche Verortung ein ganzes Leben lang ungestört bestehen, zum Beispiel in Form der Arbeitsplatzstabilität. Heute erleben wir häufigere Ortswechsel. Diese erfordern jeweils eine Neuorientierung. Was uns aber ganz anders herausfordert, ist das Auftauchen neuer Dimensionen mit ihren je neuen Ansprüchen. So sahen wir uns in den letzten Jahrzehnten mit einer neuen – nennen wir sie digitale – Dimension konfrontiert.

Diese digitale Dimension war eine Erweiterung unseres Koordinatensystems, die Verunsicherungen mit sich brachte und Gewohnheiten erschütterte. Unser Orientierungsbedürfnis ist wohl noch grösser geworden, da es sich nun an noch mehr Fronten abarbeiten muss. Aber wir werden uns individuell wie kollektiv früher oder später zu orientieren wissen.

Nun erleben wir gerade intensiv die Alltagsdurchdringung einer abermals neuen Dimension des Koordinatensystems. Diese neuste – nennen wir sie staats-sanitaristische – Dimension steht zu keiner bisherig relevanten in einem nachvollziehbaren Verhältnis, sie liegt quer zu allen sonstigen Verortungs-Linien. Nicht politische Gesinnung, Religion, Geschmack, Familienbande oder ähnliches geben Anhaltspunkte dafür, wo sich die einzelne Person auf dieser neusten Dimension verortet hat oder dies noch tun muss.

Die Orientierungssuche innerhalb dieser «neusten Unübersichtlichkeit» – angelehnt an den Titel Die Neue Unübersichtlichkeit des Philosophen Jürgen Habermas – wird verkompliziert durch einen schon länger wirksamen Trend: Neue Dimensionen warten mit einem dichten Netz von barocken AGB, subkutanen Rechtsnormen und mikroskopischen Kontrollschemen auf. Wer hat da noch die Übersicht? Wohl nicht einmal mehr der liebe Gott.

Solch regulativ-technokratischer Umgang mit neuen Dimensionen verstärkt das Moment der Desorientierung unnötigerweise zusätzlich. Statt wildwuchernder Detailreglementierung wäre nämlich eine Besinnung auf wenige Prinzipien nötig. Bedeutsame Institutionen – seien es Staaten, Firmen, Religionen, Vereine etc. – sind immer auch deswegen erfolgreich, weil es ihnen gelang, Einfachheit zu verkörpern. Eine Strategie, die nicht auf einer einprägsamen Formel basiert oder auf wenige Kernaussagen reduziert werden kann, ist meistens zum Scheitern verurteilt. (Immer häufiger aber sind die Kriterien für die Messung des Erfolgs so kompliziert gestaltet, dass gar nicht mehr festzustellen ist, dass die Strategie gescheitert ist.)

Nur auf dem Boden von nachvollziehbaren, überschaubaren Prinzipien kann Sinn und gute Lebensführung gedeihen. Ein Staat, der sich freiheitlich und demokratisch nennt, müsste seine Regeln in diesem Geist und Sinn aufstellen, anstatt mit Mikromanagement und stets neuen Verhaltens-Piktogrammen zu agieren. Als Kriterium gefällt mir folgende Prüffrage: Kann man die Prinzipien, welche Sinnhaftigkeit und Orientierung gewähren, an einer Hand abzählen? Ich werde das ungute Gefühl nicht los, dass unser Staat vor lauter Regulierung nicht einmal mehr weiss, wieviel Hände er hat.