Homo ist nicht Deus

Die Konfrontation mit dem Tod hilft,
die wichtigen Fragen des Menschseins zu stellen

Wer nicht verdrängen kann, ist mit der wuchtigen Präsenz aller Dinge und Fragen konfrontiert. Weil im Leben nicht nur Angenehmes geschieht, ist es wichtig, dass wir verdrängen können. Wichtig ist aber auch, dass wir nicht die falschen Dinge und Fragen verdrängen. Gerade die Fraglichkeit an sich ist ein Wesensmerkmal von uns Menschen. Wir stellen Fragen, ja stellen uns in Frage. Gewissheit ist nicht von Natur aus da, Antworten auf die Fragen des Lebens muss man sich mühsam erarbeiten.

Eine der grossen menschlichen Fragen ist jene nach dem Tod. Wann muss ich sterben, warum muss ich sterben, was passiert nach meinem Tod? – es gibt viele Ausprägungen dieser «Todesfrage», aber alle zielen auf den Wesenskern des Menschen: Wir sind endliche Wesen. Nun stehen dieser einen universalen Frage zig Antwortsysteme gegenüber. Kein System, auch nicht Religion oder Wissenschaft, hat bisher eine abschliessende Antwort zustande gebracht. Viele Systeme aber suggerieren eine Beherrsch- und Berechenbarkeit. Das ist gefährlich. Denn wir verdrängen dadurch die Fraglichkeit und ersetzen sie durch eine unmenschliche Absolutheit.

Eine Kehrseite dieser Verdrängung der Fraglichkeit ist die beissende Todesangst. Wir wollen es gedanklich nicht zulassen, dass der Tod für uns Realität wird. Es hat sich gar vielerorts die Ansicht etabliert, dass der Tod eine Anomalie im Leben des Menschen sei. Das ist aber eine falsche Ansicht. Der Tod ist nicht eine Anomalie, etwas Abnormales, sondern das Normalste, ja Selbstverständlichste, was dem Menschen als Menschen geschehen kann, ja muss. Wer nie den Tod erleidet, ist nicht Mensch (homo), sondern Gott (deus). Anders gesagt: Der Tod definiert das Leben des Menschen, das heisst er bestimmt und begrenzt es.

Diese Gedanken atmen für viele Zeitgenossen den Mief einer Zeit vor der Aufklärung. Das ist verständlich, ist doch die Aufklärung gerade jene Geisteshaltung, welche vermeintlich Unbeherrschbares als beherrschbar erkannt und Licht ins Dunkel vieler Lebensbereiche gebracht hat. Was der Aufklärung aber nicht gelungen ist, ja was ihr wohl nie gelingt, ist die Auf-Klärung der Todesfrage. Es ist unmöglich, diese Frage auf rationale Art zu beantworten. Es gibt nur Arten, die Realität und wuchtige Präsenz dieser Frage etwas erträglicher zu gestalten. Diese Einsicht hat es heutzutage aber schwer. Das «Memento mori», diese alte Mahnung, des Todes zu gedenken, ist weitgehend aus unserem Alltag verschwunden.

Der gegenwärtige Umgang mit den Gefahren eines neuartigen Virus aus China zeigt uns neue Schattenseiten der ansonsten sehr aufgeklärten Gesellschaft: Vielen Menschen ist die Fähigkeit abhanden gekommen, den Tod als Grundeigenschaft menschlichen Lebens zu betrachten. Sie fürchten sich und sind für das Versprechen, vom Tod verschont zu werden, bereit, auf fast alles zu verzichten, was ihnen die Aufklärung gebracht hat, ja sogar auf elementare Grundbedürfnisse wie den persönlichen zwischenmenschlichen Austausch. Obwohl das Virus nur für eine kleine Minderheit der Bevölkerung lebensgefährlich ist, fühlt sich eine überwältigende Mehrheit bedroht. Ich komme nicht umhin, mir dieses erschreckend irrationale Verhalten mit der systematischen Verdrängung der Todesfrage zu erklären.

Wir alle sterben irgendwann. Leider ereilt diese Lebenszäsur aufgrund des Coronavirus gewisse Menschen früher, als dies sonst der Fall gewesen wäre. Dies ist im Einzelfall mit unermesslicher Traurigkeit und Trauer verbunden. Aber im Grundsatz ist diese Tatsache anzuerkennen, und nicht mit allen Mitteln zu bekämpfen, wie das gerade in Mode gekommen ist. Wenn wir uns nicht von der Beherrschbarkeits- und Anomalie-Illusion verabschieden, entfernen wir uns unweigerlich von einer menschlichen und freiheitlichen Gestaltung unseres gesellschaftlichen Lebens. Dies wäre sehr bedauerlich.

Rechtlicher Notstand-Modus ist auch ein geistiger Notstand: Wir verdrängen die Todesfrage und bemerken nur zögerlich, dass wir darob auch die «Lebensfrage» vergessen haben: Was ist das Leben, und wie sollen wir es gestalten? Vielleicht hilft uns die lähmende Absenz von so vielen Dingen erfüllten Lebens ja dabei, uns über Ostern wieder einmal solch wichtigen Fragen des Menschseins zu stellen.