Die Welt als Bildschirm und Vorstellung

Gedanken zur Metaphysik des Homeoffice

Ist es denkbar, dass wir Menschen keinen vollständigen Körper haben, sondern nur als Gehirne in einem Tank existieren? In einem solchen Szenario wären wir weitgehend auf das Mentale reduziert, unsere Gehirne schwämmen in einer Nährstofflösung und wir erhielten unsere Eindrücke und Erlebnisse der Aussenwelt nicht mehr via Augen, Ohren und die anderen Sinne, sondern via elektronische Impulse aus einem Computer. Dieses Szenario mutet etwas gruslig an. Es mag vielleicht denkbar sein, doch ist es jedenfalls nicht sehr wahrscheinlich, dass die Welt und wir in ihr tatsächlich so beschaffen sind: Millionen von Gehirnen, die via Supercomputer miteinander verbunden sind, und das, was wir für die Realität halten, pure Illusion.

Interessant ist nun eine Parallele zwischen diesem beschriebenen Szenario und demjenigen, welches wir gerade flächendeckend erleben: Menschen sitzen nicht an ihrem Arbeitsplatz im Büro, sondern zu Hause vor ihrem Bildschirm mit integrierter Kamera. Ihre Meetings, Workshops und Konferenzen halten sie online ab, das Feierabendbier wird dezentral kredenzt. In diesem realen Szenario sind wir Menschen weitgehend auf Bild- und Ton-Repräsentationen reduziert, unsere Persönlichkeiten schwimmen in einem virtuellen Raum und unsere sozialen Interaktionen sind eingezwängt in den engen Bereich dessen, was elektronisch transportabel ist. Dieses Szenario hat ebenfalls gruslige Züge, vielleicht weniger im dystopischen «Matrix»-Sinn, sondern eher auf die metaphysische, Mani-Mattersche Art wie beim Blick in den Coiffeurspiegel.

Nun ist es glücklicherweise nicht so, dass wir Gefangene in diesem Szenario wären. Die Parallele zum Szenario mit den Gehirnen im Tank hört spätestens dort auf, wo es um die tatsächliche Beschaffenheit der Welt geht: Wären wir Gehirne im Tank, dann könnten wir nicht einfach aufstehen und nach draussen in den realen Wald spazieren gehen. Aus der Homeoffice-Welt können wir aber ausbrechen. Wir können unser Leben und unsere Arbeit auch anders einrichten.

Dass bei vielen Menschen ein Unbehagen angesichts der invasiven Ausbreitung virtualisierter Veranstaltungen aufkommt, ist vor diesem Hintergrund ein gutes Zeichen. Ich deute es als Rückmeldung existenzieller Intuitionen bezüglich des menschlichen Lebens, als psycho-physische Botschaft aus dem Innersten unserer Existenz: Wir Menschen sind von Natur aus sowohl mit einem Geist als auch mit einem Körper ausgerüstet, und um uns als vollständige menschliche Wesen fühlen zu können, müssen wir im direkten sozialen Austausch mit anderen Geisten und Körpern stehen. Ein ausschliesslicher Weltzugang via Bildschirm enthält uns eines Teils unseres Wesens vor. Im Verlassen des Physischen, der Körperpräsenz, mithin im Element des «meta», gründet so gesehen die meta-physische Grusligkeit des reinen Homeoffice-Lebens.

Schon sind Firmen dazu übergegangen, das Arbeiten uneingeschränkt aus dem Homeoffice zuzulassen. Diese Art der Arbeitsgestaltung bietet viele neue Chancen und Freiheiten. Es ist aber kaum denkbar, dass unser sozialer Bezug zur Welt primär über technische Hilfen vermittelt werden kann, und noch weniger ist es wünschbar, dass diese Virtualisierung der Kontakte als neuer arbeitstechnischer Imperativ verkündet wird. Unser sozialer Bezug zur Mitwelt wird stets auf persönliche, physische Präsenz angewiesen sein. Virtualisierte Kontakte sind nur eine unvollständige Art menschlicher Interaktion. Ich hoffe, dass dieser Erkenntnis bei der Beurteilung der Menschlichkeit organisatorischer Massnahmen genügend Gewicht geschenkt wird. Es wäre schliesslich absurd, unter normalen Umständen bei einem Apéro den Gästen die Wahl zu überlassen, ob sie als ganzer Mensch oder nur als Bildschirmgeist teilnehmen möchten. (Gehirne im Tank sollte man gar nicht erst einladen.)