Die offene Gesellschaft und ihre falschen Freunde

Warum die freie Meinungsäusserung nicht
vor politischer Korrektheit Halt machen darf

«Wo können wir nachlesen, was absolut wahr ist und nicht hinterfragt werden darf?» Diese Frage scheint für viele Menschen eine berechtigte Frage zu sein. In meinen Augen ist die Frage ziemlich abwegig. Allenfalls wäre sie mit einem überzeugten «Nirgendwo!» zu quittieren. Viel eher sollte sie aber dem Wortlaut nach gar nicht ernst genommen werden, so wie auch Fragen wie «Sind Sie für oder gegen Ausländer?» oder «Ist es ethisch noch zu verantworten, überhaupt CO2 auszustossen?» als irrig und falsch aufgesetzt betrachtet werden sollten. Solche Fragen sind deswegen abwegig, weil sie entweder geschlossen sind, also in der Beantwortung keine Differenzierung zulassen. Oder weil sie, wie in der Einstiegsfrage, von problematischen Prämissen ausgehen: Es gibt nämlich keine Quelle, der wir unhinterfragt absolut Wahres entnehmen können.

Sehr viel von dem, was bei Ausschreitungen in Medien und auf Strassen geschieht, basiert auf der irrigen Annahme, dass es doch so etwas wie eine Quelle absoluter Wahrheit gebe. Jede Abweichung wird dann als unerhörter oder gar systemisch-aggressiver Akt betrachtet. Religiöse Eiferer, politische Extremisten oder sektiererische Ernährungsapostel betrachten wahlweise die Heilige Schrift, das Parteimanifest, oder wissenschaftliche Studien als solche Quelle. Vielleicht liegen sie mit gewissen Argumenten richtig und es stellt sich heraus, dass bestimmte Verhaltensweisen ins Verderben führen. Viel häufiger ist es jedoch so, dass ihre Behauptungen falsch oder für die Lösung eines Problems ungeeignet sind.

Um sich der Feststellung zu nähern, was richtig, geeignet und erwünscht ist, braucht es eine offene Debatte, die sich dadurch auszeichnet, dass das Resultat nicht von Vornherein klar ist. Antworten auf gesellschaftliche Fragen fallen nicht vom Himmel, entstehen nicht aus den Wirbeln sozialmedialer Entrüstungsstürme und entsteigen auch nicht wie ein Phoenix aus der Asche abgebrannter Autos. Solche Antworten müssen gemeinsam entwickelt werden, und zwar unter Beteiligung aller Menschen, egal ob sie alte christliche Weisse oder atheistische karnivore Vielflieger sind. Je vielfältiger die Beteiligten und deren Ansichten, desto wahrscheinlicher ist es, breit akzeptierte politische Regelungen zu finden.

Dies ist eines der zentralen Argumente gegen die Einschränkung der Rede und des Ausdrucks: Gerade weil wir Menschen nicht abschliessend wissen können, was absolut wahr ist, braucht es einen freien Austausch von vielfältigen Meinungen und Argumenten. Verteidiger der Toleranz vergessen leider zu häufig, dass diese Toleranz für alle Argumente und Standpunkte zu gelten hat, nicht nur für die eigenen. Wer sich – in Anlehnung an den Titel des Buchs «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» von Karl Raimund Popper – als Freundin oder Freund einer offenen Gesellschaft betrachtet und für Menschenrechte einsteht, muss allen anderen Menschen auch das Menschenrecht auf freie Meinungsäusserung zugestehen. Dazu gehört, dass andere Meinungen, so provokativ sie auch seien, nicht mit der Moralkeule ethisch eliminiert werden. Messlatte darf auch nie die Empfindsamkeit einiger weniger sein, denn sonst dürfte bald gar nichts mehr gesagt werden: Bei jeder Aussage fühlt sich ja irgendeine Gruppe beleidigt oder diskriminiert, auch wenn sie noch so harmlos ist wie zum Beispiel «Es gibt keinen Gott.» Eine Einschränkung der Redefreiheit muss hingegen bei jenen Reden gemacht werden, die zu einer direkten Schädigung (engl. harm) führen können, zum Beispiel bei Aufwiegelung oder Aufruf zum Mord. Dies ist das sogenannte harm principle, welches John Stuart Mill in seinem Werk «On Liberty» präsentiert hat.

Wer für eine offene Gesellschaft einsteht, sollte also nicht den Mohrenkopf aus den Ladenregalen verbannen, sondern sich dafür einsetzen, dass es noch viele weitere Farbvariationen gibt.