Über die Herrschaft der Daten

Datenschutz-Formalismen sollten uns nicht vom wirklich Wichtigen ablenken

Grosse Sammlungen von Daten und deren Verwertung werfen Fragen nach der Zulässigkeit und prozeduralen Ausgestaltung auf. Um solche «Big Data»-Fragen kümmern sich ganze Heerscharen von Datenschutzbeauftragten, Juristinnen und Beratern. Der hohe Institutionalisierungsgrad – es gibt Reglemente, Gesetze, ja ganze Ämter – vernebelt die Tatsache, dass solche Fragen selten in die Tiefe menschlicher Relevanz gehen. Zu häufig handelt es sich um eine Fragenbewirtschaftung mit absurden Folgeerscheinungen: So ist staatlich verordnete Bewusstseinsförderung mittels pflicht- und vorschriftsgemässer strukturierter Einverständniseinholung beim Übermitteln persönlicher Daten zwecks Abschliessen von Online-Transaktionen omnipräsent geworden. (Die schwerfällige Struktur dieses Satzes ist Abbild meines Erlebens beim alternativlosen Akzeptieren einschlägiger Hinweise.)

Im Grunde geht es beim Persönlichkeits- und Privatsphärenschutz aber um die Frage nach dem guten Leben: Wie wollen wir leben, wie wollen wir unser Leben in der Gemeinschaft organisieren, an welchen lebensphilosophischen Grundsätzen wollen wir uns orientieren?

Der Theologe und Philosoph Thomas von Aquin aus dem 13. Jahrhundert bietet in seiner Schrift «Über die Herrschaft der Fürsten» ein hierarchisches Modell für eine gesellschaftliche Organisation. Es basiert auf dem Konzept des guten oder tugendhaften Lebens. Thomas dient Gott als Richtschnur. Heute nimmt diese Rolle die Freiheit ein. Politische Massnahmen im Datenschutz werden daran gemessen, inwiefern sie die Freiheit, oder in anderen Worten die Fähigkeit zur Selbstbestimmung der Individuen, schützen und befördern.

Über «seine Daten» frei und selber bestimmen zu können wird heutzutage leider als technokratische Ersatzgarantie dafür angeboten, dass man im digitalen Alltagsnebel den Blick auf die wesentliche Aufgabe des Lebens zu verdrängen bereit ist. Erleichtert wird uns weniger die Sicherstellung der Handlungsfreiheit, sondern eher die Zurkenntnisnahme der theoretischen Hoheit über «unsere Daten». Dabei ist die Freiheit wenig eingeschränkt, wenn irgendwo Name und Adresse ohne Zustimmung gespeichert bleiben. Aber sie ist stark in Gefahr, wenn private Informationen in die Hände von Akteuren mit unlauteren Absichten gelangen. Und dazwischen, zwischen ungefährlicher Datenhaltung und gefährlichem Datenmissbrauch, liegt das weite Feld der lebenspraktisch relevanten Datennutzung.

Insofern wir freiwillig und bewusst Dienstleistungen nutzen und bereit sind, dafür Daten preiszugeben – Daten als Preis zu geben! – kann die Frage nach dem anständigen Umgang mit unseren Daten eine relativ entspannte Antwort erhalten. ‹Datum› (als Einzahl von ‹Daten›) ist Lateinisch und bedeutet ‹das Gegebene›. Dem Begriff kommt im Zeitalter digitaler Durchdringung ein neuer Gehalt zu, nämlich jener des als Transaktion-Preis Gegebenen. Ich gebe Dir meine Daten, Du gibst mir Deinen (Gratis-)Service. Kriterium für die korrekte Nutzung meiner Daten sollte dann nicht die Einhaltung eines Formalismus sein, sondern die Garantie, dass die Daten nicht zur Einschränkung meiner Handlungsfreiheit verwendet werden. «Big Data» wird nicht schon dann zum grundsätzlichen Problem, wenn auf retrospektiver Grundlage zukünftiges Verhalten vorherzusagen versucht wird, sondern erst dann, wenn versucht wird, dieses vorherzubestimmen.

Wenn die Freiheit in der Lebensgestaltung bewahrt bleibt, unabhängig vom Verhalten in der Vergangenheit, dann besteht kein Grund zu existenzieller Angst vor «Big Data». Solange die «Herrschaft der Daten» unsere Freiheit und Selbstbestimmung nicht beschränkt, und solange die kollektive Herrschaft des institutionalisierten Datenschutzes sich nicht verselbständigt, sondern sich der individuellen Herrschaft über die Lebensgestaltung fügt, solange dünkt mich die Hierarchie der Wichtigkeiten im Leben bewahrt.