Wie soll ich glauben?

Ein rationales Plädoyer für die Bezugnahme auf das Universum

Was ist Ihre spontane Reaktion beim Lesen der Titelfrage? Wenn sie mehr durch Stirnrunzeln als Neugierde geprägt ist, dann ist das ein Indiz, dass ein säkularer Szientismus Ihr Denken durchdringt. Was soll der Alltag moderner Menschen – gemäss dem Motto der aktuellen Blog-Serie «Liberale Alltagsethik für moderne Menschen» – noch mit Glauben zu tun haben? Ja noch mehr: Wie soll es in Glaubenssachen Sollens-Vorschriften geben? Ich setze mir mit diesem Text zum Ziel, zur Glättung Ihrer Stirn und zur Erhellung eines modernen Missverständnisses beizutragen.

Meine spontane Reaktion beim Formulieren der Titelfrage war berufsbedingt: Was ist mit ‹glauben› gemeint? Denn es können drei Hauptbedeutungen unterschieden werden. Erstens ein eher vages Meinen: «Ich glaube, dieser Kunde bezahlt seine Rechnung nicht mehr.» Zweitens ein schon gewisseres Fürwahrhalten: «Ich glaube, auf ihn kann man sich verlassen.». Und drittens ein festes Vertrauen auf die Existenz und Zuverlässigkeit einer Sache. Hier geht es nur um Letzteres. Und ich behaupte, dass ein gesunder und vernünftiger Mensch immer auch einer ist, der einen Glauben gemäss dieser dritten Bedeutung hat. Ob es sich bei der vertrauenswürdigen Sache um sich selber, um eine andere Person, um die Welt oder um etwas Überweltliches handelt, ist im Moment weniger wichtig – wobei ich überzeugt bin, dass es gesund und vernünftig ist, alle vier Wirklichkeits-Bereiche gleichermassen zu berücksichtigen. Zentral ist die mentale Einstellung, die dem Glauben innewohnt: Angelehnt an die etymologische Bedeutung (althochdt. gilouben bedeutete ursprünglich ‹für lieb halten›, ‹gutheissen›) bezeichnet es den mental positiven, stützenden Bezug auf ein Objekt.

Wer glaubt, verfügt somit über eine Instanz, welche dem Ich eine verbindliche Stütze ist. Ist das nun nicht gerade das, wonach moderne Menschen so sehr plangen, angesichts des Wegfallens traditioneller Verbindlichkeiten und Zwänge? Verbindliche Bezugsinstanzen im Leben zu haben ist nämlich Teil der mentalen Gesundheit, und die mentale Gesundheit ist Teil eines erfolgreichen, selbstbestimmten Lebens rationaler Menschen.

Ich hoffe, dass Sie mir bis hierher ohne grundsätzliche Einwände gefolgt sind und nun verstehen, warum der Glauben gerade auch im Zeichen der sogenannten Säkularisierung eine fundamentale Rolle für jeden einzelnen Menschen spielt. Der Begriff der Säkularisierung bezeichnet den Bedeutungsverlust von institutionalisierter Religion und Kirche und eine Verweltlichung des Denkens. Frappant illustrieren lässt sich dieses Phänomen an folgender Aussage eines «antireligiösen» Menschen: «Ich glaube nicht an Gott, sondern halte mich an die Wissenschaft, denn ich glaube nur, was man beweisen kann.» Der (Gottes-)Glauben wird hier auf Basis eines szientistischen, d. h. wissenschaftsgläubigen Beweis-Dogmas abgelehnt.

Dies ist ein selbstwidersprechendes Antireligionsdogma. Wer nur glaubt, was beweisbar ist, glaubt an die Gültigkeit dieses Prinzips. Diese Gültigkeit kann aber nicht selber bewiesen, sie muss geglaubt werden. Somit dürfte diese Person – wäre sie ihrer Überzeugung treu – nicht an ihre Überzeugung glauben, was ein Widerspruch ist. Wer sein Weltbild auf eine innerweltliche Beweis-Methode stützt – z. Bsp. die wissenschaftliche – erfasst damit nicht die ganze Wirklichkeit, ja kann sich wie gesehen rasch in logische Widersprüche verstricken. Die ganze Wirklichkeit oder das Universum umfasst mehr, als menschlichem Wissen, menschlicher Rationalität und Methodik zugänglich ist – wie oben angetönt gehören zum Universum (mindestens) vier Bereiche. Ohne Berücksichtigung aller geht auch einem dezidiert aufgeklärten und rationalen Menschen etwas Wesentliches ab.

Für eine ausführliche Darstellung, die allen Bereichen gerecht wird, verweise ich auf das entstehende Buch. Was ich hier kurz zusammengefasst schon sagen kann: Wie in überweltlicher Hinsicht geglaubt werden soll, ist nicht Gegenstand einer verbindlichen Moral. Ob und wie man an Gott oder «etwas Grösseres» glaubt, ist dem Individuum überlassen. Es ist aber ein Missverständnis, dass ein solcher Glaube widervernünftig oder gar konträr zu einem wissenschaftlichen Weltbild ist. Niemand kann ohne jegliche Glaubens-Einstellung leben, weswegen es ungesund ist, sich Fragen zur gesamten Wirklichkeit nicht ernsthaft zu stellen. Dies ist meiner Meinung nach der «Religious Common Ground» für moderne Menschen in einer säkularen Gesellschaft.