Wie soll ich lieben?

Eine sozialphilosophische Begründung menschlicher Alltagsliebe

Was für eine freche Titel-Frage! Denn was hat das Sollen in der Liebe zu suchen? Liebe ist doch etwas ursprünglich Entscheidfreies. Es ist doch nicht möglich, mich aus moralischen oder anderen Überlegungen verpflichtet zu fühlen, jemanden oder etwas zu lieben. Es gibt doch nicht so etwas wie einen Liebes-Entscheid. Meine Selbstbestimmung hat ihre Grenzen, und das Phänomen der Liebe liegt jenseits des autonomen Hoheitsgebietes meines Ichs.

Stimmt dies alles wirklich? Ist die Liebe nicht doch der willentlichen und bewussten Steuerung unterworfen? Ich meine: Es kommt darauf an, wie man ‹Liebe› versteht. Philosophen sollten – schon wieder dieses drängende Wort… wie ich philosophieren soll, muss ich unbedingt in einem eigenen Blogbeitrag klären! – sich vorrangig um Begriffsklärungen bemühen, bevor sie mit ihren Argumenten auffahren. Daher «pflichtschuldigst» noch einmal von vorne:

Was ist Liebe? Welche Formen kann sie annehmen? Gibt es eine Urform der Liebe, zum Beispiel die geschlechtliche Liebe zwischen Mann und Frau? Ich bin überzeugt, dass es eine solche Urform und Essenz der Liebe gibt, und zwar die Liebe zum Leben oder Sein, als Gegensatz zum Tod oder Nichtsein. Von dieser Urform – welche auch als göttliche Liebe bezeichnet werden könnte – abgeleitet ist die Liebe von Mensch zu Mensch. Die sexuelle Liebe ist eine der zentralen, intensivsten Ausprägungen dieser Menschenliebe. Die Liebe der Eltern gegenüber ihren Kindern ist eine weitere, auf wieder eigene Weise intensive Form, ebenso die eheliche Liebe, welche der feurigen Liebe der ersten Jahre nachfolgen kann.

Ich behaupte, dass die Liebe von Mensch zu Mensch, also die Nächstenliebe, die im Alltag bedeutsamste ist, da ihr eine ganz besondere Orientierungsfunktion zukommt: Denn was Liebe ist, lernen wir aus dem Umgang mit anderen Menschen. Es mag theoretisch möglich sein, ohne je Liebe erfahren zu haben, selber vertrauens- und hingebungsvoll zu lieben, aber praktisch wahrscheinlich dünkt es mich nicht. Umso wichtiger ist es für den Menschen, inner- und besonders ausserhalb der engen Familie Liebe auszustrahlen. Dieses «soziale Liebes-Leben» kann unter anderem die Form der Dankbarkeit annehmen für die Existenz von Menschen und Dingen. Danke sagen ist so gesehen immer auch ein Liebesbeweis.

Diese alltägliche Form der Liebe, diese Freude an der Existenz und Präsenz, würde ich nun als etwas dem Willen Zugängliches bezeichnen. Das christliche Gebot, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, lässt sich somit auch rein philosophisch begründen, es ergibt sich dann ein sozialphilosophischer Imperativ der Menschlichkeit: «Liebe jeden anderen Menschen, insofern Du zugleich wollen tust, dass Du Dich selber liebst und geliebt werden willst.»

Von diesem generellen Liebesprinzip können nun Antworten für jede Sonderform der Liebe abgeleitet werden. Ich möchte hier nur noch kurz auf die partnerschaftliche Liebe eingehen, weil Fragen rund um diese Form wohl die meisten von uns am intensivsten umtreiben. Wie soll ich meine Partnerin, meinen Partner lieben? Muss ich ständig an sie oder ihn denken, täglich Blumen oder Bier bringen, immer Danke sagen, darf ich nie anderen Attraktiven interessierte Blicke zuwerfen? Chabis! Echte Liebe äussert sich nicht primär in quantifizierbaren, messbaren, omnipräsenten oder äusserlichen Merkmalen. Echte Liebe lässt sich nicht mit illiberalen, bürokratischen Methoden erfassen. Sie äussert, nein!… sie «innert» sich darin, dass ein unbefristetes und bedingungsloses Urbezogensein wirkt. Echte Liebe hat kein Ablaufdatum, sie braucht keine Voraussetzungen und sie geht einher mit einem tiefsitzenden Gefühl des Bezugs, der Richtung, der festen Orientierung auf die andere Person.

Da ein solches Gefühl nicht willentlich erzeugt werden kann, umfasst die moralische Sollens-Pflicht in einer Beziehung die Schaffung von guten inneren wie äusseren Umständen, damit Liebe gedeihen kann. Die Tugend der Fürsorge zu üben ist somit oberstes Gebot der Liebe, und als solches durchaus einer willentlichen Steuerung unterworfen. Mit anderen Worten: Regelmässig säen und tränken! Alles Weitere liegt ausserhalb unseres autonomen Ich-Gebietes. Oder wiederum mit anderen Worten: Es ist unverfügbar und eine Gnadengabe.