Wie soll ich schreiben?

Sprache darf nicht zur Umsetzung von Parteiprogrammen
mit anderen Mitteln verkommen

Sprache ist geronnene Kulturentwicklung. Schriftzeichen, Kompositionsregeln sowie die den einzelnen Wörtern und Wendungen zugewiesenen Bedeutungen sind Resultate impliziter oder expliziter Konventionen innerhalb einer im weitesten Sinn politischen Gemeinschaft mit ihren je eigenen kulturellen Werten und Dogmen. Sprache kann somit nicht als politisch völlig neutral betrachtet werden. Dennoch ist das Phänomen der Kommunikation mittels graphischer Zeichen wohl eines der besten Beispiele für eine egalitäre Verbindung unter vernunftbegabten Menschen und sollte daher nicht partikulär vereinnahmt werden.

Eine funktionierende Schrift ist ohne Regulierung und Normierung nicht denkbar. Alle des Lesens und Schreibens Mächtigen haben ein intensives freiheitsberaubendes Normierungsprogramm durchlaufen. In den meisten Fällen überwiegen die positiven Effekte schulischer Alphabetisierung; Sprachstandards senken auf kaum ermessliche Weise die Transaktionskosten in vielen Lebensbereichen. Nicht alle Menschen absolvieren aber ohne Schäden das staatlich verordnete Spracherziehungsprogramm – entscheidend ist, dass die institutionelle Verachtung von Schreibfreiheiten nicht in menschenverachtender Form daherkommt: Lernzielbefreiungen, Kunstfreiheit und Variantenzulässigkeit sind moderne Errungenschaften zur Milderung des auf jedem Subjekt lastenden Normierungsdrucks. Aus einer liberalen Sicht kann somit das intrinsische Übel der staatlichen Sanktionierung von Falschschreibung aufgrund überwiegenden späteren Nutzens und der Existenz zahlreicher individueller Schlupflöcher durchaus eine Sinnhaftigkeit und Rechtfertigung finden.

Im Zuge der Pluralisierungs- und Individualisierungstrends geraten die seit der späten Neuzeit gewachsenen Schreibstandards allgemein unter Druck. Aus helvetischer Sicht kann man dies nicht nur mit föderal-liberaler Gelassenheit zur Kenntnis nehmen, sondern auch positiv bewerten. Die Gelassenheit hört aber dort auf, wo der Druck auf Standards nicht ein pluralistischer, sondern ein gesinnungspolitischer ist. Einmal abgesehen davon, dass es nicht immer angenehm und effizient ist, von Text zu Text mit anderen Varianten konfrontiert zu sein, entwickelt sich vor allem eine vergiftete Debattenkultur, wenn neutral intendierte Formverwendung sogleich als inhaltlich verwerfliche Positionierung gedeutet wird. Die Verwendung von umstrittenen Schreibweisen erscheint mir insbesondere bei staatlichen Institutionen als sprach- und demokratiepolitisch problematisch. Von Organisationen, die von mir Konformität beim Ausfüllen von Formularen, Absolvieren von Prüfungen, Bezahlen von Steuern fordern, darf ich als Bürger auch Konformität mit offiziellen Schreibweisen erwarten.

Non-Konformität tritt nun zu häufig als Normativität ideologischer Sprachparteien auf, als moralische Sanktionierung von «Ungerechtschreibung». So ist dem zuvor unverdächtigen generischen Maskulinum regelrecht der Kampf angesagt worden. Zwischen gewohnheitsmässigem Benutzen der omnigenerischen Pluralform – wie man sie sachlich nennen könnte – und der absichtlichen oder gar systematischen Diskriminierung aller nicht-maskulinen Wesen liegen aber weite Felder zahlreicher Möglichkeiten, «die Un- resp. Gerechtigkeit in der Welt» zu befördern. Wenn Schreibkonvention mit Denkperversion gleichgesetzt und dieser weite Zwischenraum negiert wird, gehen viele Möglichkeiten verloren, offenherzig und gemeinsam an einer neuen Sprachkultur zu arbeiten.

Sprachentwicklung sollte als gemeinsames Projekt betrachtet werden, an welchem Menschen unterschiedlicher politischer Couleur arbeiten. So können polemische Moralfragen im Idealfall durch demokratische Sachfragen abgelöst werden, für deren Bearbeitung etablierte Prozesse zur Verfügung stehen. Die Titel-Frage mutiert dann zur Frage, wie wir schreiben sollen. Als Ziel erscheint ein demokratischer Beschluss, an deren Vorbereitung alle mitwirken können. Solange kein solch politisch-gemeinschaftlicher Entscheid vorliegt, dünkt es mich ethisch fragwürdig, in moralistischer Weise experimentelle Schreibweisen zu propagieren – ganz so wie es ja auch nicht statthaft ist, nach eigenem Gusto Gesetzesregeln durchzusetzen, die man sich fest wünscht, die aber (noch) nicht in Kraft getreten sind.