Wie soll ich abstimmen?

Grundsätzliches zum Leben und Leiden in direkter Demokratie

Bei einer Abstimmung werden mündige Menschen um die eigene Meinung gefragt. Jeder kann Ja oder Nein sagen oder sich der Stimme enthalten. Wäre die Abstimmungsfrage alternativlos zu beantworten, müsste man gar nicht erst gefragt werden. Somit kann es keine richtige oder falsche Antwort auf Abstimmungsfragen geben.

Es ist normal, dass man sich bei gewissen Vorlagen ob der eigenen Meinung und damit ob der Antwort nicht sicher ist. Gerade bei ungewohnten Fragen – zum Beispiel ob Kühen die Hörner nicht entfernt werden dürfen – oder solchen mit grundrechtlich heiklen Aspekten – zum Beispiel dem Burkaverbot – ist Unsicherheit üblich und sind herkömmliche Parteiüberzeugungen aufgeweicht. Ähnlich verbreitet wie bei Volksabstimmungen ist Abstimmungsunsicherheit auch bei parlamentarischen, ja gar bei exekutiven Abstimmungen. Dies mag auf den ersten Blick erstaunlich scheinen, hat das Volk doch Vertreterinnen und Vertreter in die Legislativen und Exekutiven gewählt, die sich durch ein überdurchschnittliches Interesse an politischen Themen auszeichnen. Aber in solchen Ämtern ist man im Alltagsgeschäft mit zahlreichen Fragen konfrontiert, welche ausserhalb des eigenen Interessengebietes liegen, oder bei welchen die ideologische oder parteipolitische Gesinnung keine Anhaltspunkte für eine klare Beantwortung bieten. Schliesslich können sich Gewählte nicht aussuchen, zu welchen Fragen sie Stellung beziehen müssen (ausser sie verzichten auf die Teilnahme an einer Abstimmung, was aber einer Arbeitsverweigerung nahekommt). Noch viel mehr als für gewählte Politikerinnen – die damit rechnen müssen, dass ihnen neuartige Fragen vorgelegt werden – gilt für die Stimmbevölkerung, dass man sich die Fragen nicht aussuchen kann: Man wird «ungefragt gefragt». Es gibt nicht wenige Menschen, bei denen diese Konfrontation mit teilweise schwierig zu beurteilenden Fragen Überforderung oder andere Formen des Leidens auslöst.

Ist nun dieses ungefragte Gefragtwerden ein illegitimer Eingriff in die persönliche Autonomie? Ich bin dezidiert der Meinung, dass dem nicht so ist. Gefragt zu werden ist vielmehr als ein freiheitsförderliches Angebot zu verstehen, über Sachvorlagen zu befinden, deren Regelung ansonsten einer kleinen Gruppe von Personen überlassen ist (wie in den meisten sogenannten Demokratien auf der Welt). Für die Legitimität von Entscheiden ist es besser, wenn eine grössere Zahl von Menschen mitbestimmen kann, als nur eine kleinere – natürlich insofern der Kreis der Betroffenen deckungsgleich ist wie jener der Abstimmenden. So wäre es beispielsweise nicht legitim, die Stimmbevölkerung des Kantons Zürich über eine Sachfrage in der Gemeinde St. Immer befinden zu lassen.

Die Beantwortung jeder Abstimmungsfrage ist also dem freien Willen der Einzelnen überlassen. Ganz normal und auch richtig ist, dass man sich für die Beantwortung am Verhalten anderer orientiert und deswegen zuweilen «Du, wie soll ich abstimmen?» fragt. Indem auf diese Weise Vertrauenspersonen herangezogen werden, wird zwar zu einem gewissen Teil auf die Selbstbestimmung verzichtet, doch gleichzeitig wird die Zielgenauigkeit der eigenen Stimme bezüglich der eigenen Präferenzen erhöht. Denn nicht alle haben genügend Zeit, sich immer gründlich mit allen Abstimmungsvorlagen auseinanderzusetzen, und wer sich an anderen Personen, Parteien oder Verbänden orientiert, die gleich oder ähnlich denken, profitiert von deren Informationsarbeit. Letztlich behält man aber die Freiheit, so oder anders oder auch gar nicht abzustimmen. Diese Freiheit zu haben ist aus liberaler Sicht der fundamentale Vorzug direkter Demokratie. Die Mitglieder der Stimmbevölkerung haben bei jeder Abstimmung das Recht, ohne Vorgabe und Leitung anderer ihre ureigene Meinung zu bekunden.

Sich getrauen, Ja zu stimmen, auch wenn alle anderen Nein sagen (oder umgekehrt) ist so gesehen der liberale Leitspruch des aufgeklärten Abstimmens. Stellen Sie sich, wenn Sie das nächste Mal zur Urne gerufen werden, folgende Prüffrage: Orientiere ich mich daran, was andere über mich denken? Oder daran, was ich selber über das Thema denke? Für mündige Menschen ist einzig Letzteres relevant.